-> Brief an das Gesundheitssystem

Liebes Gesundheitssystem

Ich habe nun endlich begriffen, dass es nicht darum geht, dass wir durch das Gesundheitssystem geschützt werden, sondern dass du vor uns geschützt werden musst. Denn: du bist eine vulnerable Gruppe und daher prioritär schützenswert.

Wärst du ein Mensch, liebes Gesundheitssystem, dann wärst du eine sehr komplexe Persönlichkeit, eine komplizierte und psychisch labile Person, die ständig kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht, und der – so scheint es – beim besten Willen nicht zur Gesundung geholfen werden kann, weil sie im Grunde nicht gerettet werden will, sondern ihre Störungen längst chronifiziert kultiviert.

Du armes Gesundheitssystem! Das so wertvoll ist und so viel kostet, und wir alle so viel Schuld auf uns laden, wenn wir dich behelligen und belästigen, dich an deine Kapazitätsgrenzen bringen oder gar überlasten.

Und es war im Sinne deiner Burnout-Prävention logisch und folgerichtig, Ende 2021 darüber zu diskutieren, Ungeimpfte aus deinen überlasteten Intensivstationen auszuschliessen. Denn wer durch egoistisches und fahrlässiges Verhalten die Überlastung deiner Intensivstationen in Kauf nimmt, hat es schlichtweg nicht verdient, von dir behandelt zu werden. Und auf dieser Logik aufbauend sollte es unbedingt weitergehende Überlegungen geben, welche weiteren verantwortungslosen Gruppen man in Zukunft aus whatever Gründen von bestimmten Gesundheits-Dienstleistungen ausschliessen sollte.

Die monatlichen Krankenkassenprämien mögen horrend erscheinen, und für kleine bis mittlere Einkommen einen stattlichen Anteil der Lebenshaltungskosten ausmachen. Aber wir sollten nie vergessen: im Notfall ist und bleibt der Patient ein Profiteur. Denn: Stellen wir uns vor, wir landen morgen auf der Intensivstation!? Dann kosten wir nämlich unter Umständen in wenigen Tagen mehr als wir bisher einbezahlt haben. Und daher ist es das Mindeste, was wir zu leisten haben: alles, was uns von unseren Gesundheitshütern empfohlen bis befohlen wird, zu befolgen. One health.

Und wir alle sind aufgefordert, dich – das Gesundheitssystem – solidarisch zu schützen vor uns – dem Patienten, diesem kostentreibenden Faktor und Profiteur. Und wir sollten Dankbarkeit zeigen. Denn du – liebes Gesundheitssystem – leidest nämlich unter latent schlechtem Gewissen, weil du uns so viel Geld abknöpfen musst.

Lasst uns darum unsere jährlich steigenden Prämien nicht nur fristgerecht, sondern auch gern einzahlen! Geben wir dem Gesundheitssystem ein gutes Gefühl. Und bitte! Respektieren wir, wenn das Gesundheitssystem und unsere Krankenkassen sich und ihre Leistungen zwischendurch auch mal verweigern. Denn: auch eine Krankenkasse muss sich zwischendurch abgrenzen dürfen gegenüber all der Ansprüche, die an sie gestellt werden.

Und sollte man die Unverschämtheit besitzen, die Krankenkasse telefonisch behelligen zu wollen, dann sollte man auch bereit sein, stoisch jede noch so lange Warteschlaufe zu ertragen, währenddessen man mit sedierender Musik berieselt und penetrant regelmässig darauf hingewiesen wird, bitte zuerst das online-Portal aufzusuchen, und stimmungsmässig bei der Stange gehalten mit der wiederkehrenden Phrase: «Ihr Anruf ist uns wichtig, bitte bleiben Sie am Apparat, unsere Mitarbeiter sind momentan alle in Kundengesprächen beschäftigt». 

Sollte man in solchen Warteschlaufen-Momenten von leiser Skepsis beschlichen werden und sich die Frage stellen: Wieviele Mitarbeiter sind tatsächlich am anderen Ende dieser Schlaufe gerade mit Kunden beschäftigt? Oder sind dort womöglich momentan gar keine Mitarbeiter beschäftigt, weil das Kundenservice-Team gerade in einer internen Weiterbildung ist oder in der Znünipause, oder in Bulgarien, Indien oder sonstwo Menschen sitzen, die diesen Anruf jetzt gerade nicht entgegennehmen können und auch niemals entgegennehmen werden, weil auch diese Billiglohnländer-Mitarbeiter längst wegrationalisiert worden sind, und sich die Krankenkasse gerade in einem Sabbatical befindet und ein Achtsamkeits-Retreat besucht – auf der Suche nach ihrer work-life-balance?

Sollte man also nach solchen Warteschlaufen-Momenten einer geradezu verschwörungstheoretischen Skepsis verfallen, dann sollte man sich unbedingt darauf besinnen, dass es unsere verdammte solidarische Pflicht ist, das Gesundheitssystem zu schützen. Und nicht unsere egoistischen Patientenbedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, sondern für eine – im Interesse des Gesundheitssystems – förderliche Balance sorgen zwischen Krankheit und Gesundheit. Auf dass wir die profitablen Gesundheitsdienstleistungen nachfragen, die Spitäler und Intensivstationen optimal auslasten, aber niemals überlasten.

 In diesem Sinne wünsche ich dir – du äusserst kostspieliges und vulnerables Gesundheitssystem – eine ausgewogene work-life-balance, Momente der Achtsamkeit und des Aufatmens, und ein herzhaftes «bliib gsund!»

Mit freundlichen Grüssen, eine Prämienzahlerin

 

PS: Ich gehe neuerdings in Paartherapie, denn meine Beziehung mit meiner Krankenkasse – mit der ich quasi eine Zwangsehe führen muss – ist derzeit zerrüttet.