Das Karfreitagsei

Meine Grossmutter – s’Mutti – war überzeugt, dass Eier, die an einem Karfreitag gelegt worden waren, eine besondere Schutzwirkung hätten. Jedes Jahr verschenkte s’Mutti Karfreitagseier an all ihre Lieben – und das waren viele, denn sie hatte zehn Kinder geboren, die wiederum geheiratet und weitere Kinder gezeugt hatten. Das Karfreitagsei sollte – so empfahl sie uns – im Auto mitgeführt werden zum Schutz vor Unfällen.

Den Beweis für die Besonderheit von Karfreitagseiern sah s’Mutti darin, dass Karfreitagseier nicht verfaulen würden sondern vertrocknen. Meine Eltern glaubten nicht an die Schutzwirkung von Karfreitagseiern – aber em Mutti z’lieb und auch nach dem Motto «nützts nüd so schadts nüd» hatten wir jeweils ein Karfreitagsei im Auto. Und tatsächlich: fast alle dieser im Auto mitgeführten Karfreitagseier vertrockneten, ganz selten verfaulte eines. Und als Kind fragte ich mich: sind Karfreitagseier wirklich so besonders? Oder vertrocknen Eier normalerweise sowieso statt zu verfaulen?

Neulich ist mir diese Frage wieder in den Sinn gekommen. Und siehe da, das Karfreitagsei hat sogar einen eigenen Eintrag auf Wikipedia:

 

„Schon die alten Völker der Ägypter, Perser und Chinesen sollen gesegnete Eier für das Haus ausgelegt haben. Als Fruchtbarkeits- und Lebenssymbol sollten sie vor allem Bösen schützen. Jedes Familienmitglied erhielt ein gesegnetes Ei, das wie eine Impfung als Schutz vor Krankheit verzehrt wurde. Daraus entstand offensichtlich das Karfreitagsei, es darf der Überlieferung nach weder bemalt oder verziert werden. Ihm wird zugeschrieben, dass es nicht verfault, sondern nur innerlich vertrocknet.“

Dem Phänomen des Vertrocknens haben sich Wissenschafter angenommen. Und wissenschaftlich gesehen gibt es eine einfache physikalische Erklärung dafür, ob ein Ei verfault oder vertrocknet: Eier mit beschädigter Schale faulen, Eier mit intakter Schale vertrocknen. Weshalb Karfreitagseier zahlenmässig tatsächlich seltener faulen als gewöhnliche Eier ist also wahrscheinlich eher dem Umstand geschuldet, dass Karfreitagseier besonders behutsam behandelt und daher seltener beschädigt werden. Wissenschaftlich abschliessend erklären lässt sich dieses Phänomen jedoch nicht.

Und genau in dieser Nicht-Erklärbarkeit des Phänomens liegt dessen Interpretationsspielraum und auch die Sphäre, wo Glaube entsteht. Wo der Wundergläubige das Phänomen Richtung Wunder deutet, und der Wissenschaftsgläubige dasselbe Richtung Wissenschaft.