Der Sonntagsstein

Objektiv gesehen ist die Geschichte rasch erzählt: Ich war bei Schneefallverhältnissen zu schnell unterwegs, verlor die Kontrolle, landete im Bachbett, Auto Totalschaden, ich unversehrt. Punkt, fertig. In der subjektiven Interpretation dieses Ereignisses hingegen bin ich völlig frei. Je nach Glaubenskonstrukt, von dem ich ausgehe, kann ich verschiedene Fragen stellen und zu ganz unterschiedlichen Deutungen gelangen. 

In meiner dämlichen Neulenker-Kühnheit war ich vor dem Unfall während Wochen meistens unangeschnallt im Auto unterwegs gewesen, weil ich es irgendwie cooler fand, nicht angeschnallt zu sein. Und auch am Unfalltag war ich zunächst unangeschnallt gefahren, hatte mich erst etwa zwei Kilometer vor dem Unfallort, angeschnallt. Nehmen wir an, ich wäre damals sehr gläubig gewesen, mit einem kindlichen Gottesbild ausgestattet: Gott als allmächtiger Gott, der direkt in mein irdisches Leben eingreift, die Geschehnisse auf Erden lenkt und mich belohnt oder bestraft.
Mit einem solchen Glaubenskonstrukt hätte ich diesen Unfall als Bestrafung Gottes deuten können für nicht-Gurt-tragen. Und das Karfreitagsei als Schutz vor einem schlimmeren Verlauf des Unfalls. Ich hätte mich gar zur Idee versteigen können, diesen Unfall als Erweckungsmoment zu deuten und mich berufen fühlen, künftig die Botschaft Gottes und das Karfreitagsei in die Welt der Autofahrer zu tragen.
Ich hätte meine Ausbildung abgebrochen und wäre fortan täglich mit kartonweise Eiern bei der Kreuzung Rabennest BILD gestanden und hätte – mit verklärtem Erleuchtetenblick – den Autofahrern behutsam ein Karfreitagsei in die Hand gedrückt. Und falls durch meine Anwesenheit an der Kreuzung Unfälle passiert wären, weil die Autofahrer abgelenkt worden wären durch meine Eiermission, hätte ich dies als weiteren Beweis für die Dringlichkeit meiner heiligen Mission zur Unfallverhütung gedeutet.

Sicherlich wäre ich alsbald mit praktischen Problemen konfrontiert gewesen: schon nach wenigen Wochen hätte ich keine Karfreitagseier mehr gehabt,  was dann? Ich wäre zunächst umgestiegen auf gewöhnliche Eier. Praktischerweise aber hätte ich umgesattelt von Eiern auf Steine, die ich heilige Sonntagssteine genannt hätte und verkündet, dass diese Steine durch meine Berührung eine besondere Schutzwirkung hätten.
Und ich hätte Jünger um mich geschart. Und in immer grösseren Gruppen wären wir im Namen des Sonntagssteins missionieren gegangen Richtung Schindellegi und Zürich, Zürich Flughafen und in die Welt, mit der Mission des unbedingten Glaubens an die Schutzwirkung des Sonntagssteins.
Die Bewegung wäre global gewachsen und im Lauf der Zeit hätte es Abspaltungen gegeben. Radikale Splittergruppen hätten sich auf Kreuzungen gelegt, um Autofahrer zur Mitnahme eines Sonntagssteins zu zwingen. Es wären radikale Gruppen auf den Plan getreten, die behauptet hätten, sie wären im Besitz des wahren Steins, nämlich des Donnerstagssteins. Andere hätten behauptet, ihr Montagsstein sei der wahre Heilsstein. Und zwischen den verschiedenen Splitter- und Radikalgruppen wäre es zu Konflikten gekommen über die Deutungshoheit all dieser Steine, die im Umlauf waren. Und alsbald wären die Steine dazu benutzt worden, um aufeinander loszugehen. Ein typischer und weiterer Glaubenskrieg halt.