Der Unfall

S’Mutti hat sich nicht für den wissenschaftlichen Nachweis ihres Glaubens interessiert. Aber selbst wenn ihr diese Erkenntnisse zu Ohren gekommen wären, glaube ich nicht, dass ihr deswegen der Glaube abhanden gekommen wäre. Im Gegenteil: sie hätte sich in ihrem Glauben wohl eher bestätigt gefühlt. Denn wenn selbst die Wissenschaft das Phänomen nicht abschliessend erklären kann: ist das nicht erst recht der Beweis für dessen Besonderheit?

S’Mutti jedenfalls glaubte an die Schutzwirkung des Karfreitagseis und verschenkte es jährlich an ihre Lieben. Es sollte nicht nur vor Autounfällen schützen, sondern auch für die Bewältigung diverser anderer Probleme nützlich sein. Ihr selber jedenfalls kann ihr lebenslanger Glaube und der Hang zum Wunderglauben nicht allzu schlecht bekommen sein. Sie erreichte ein sehr hohes Alter, und dies bei respektabler körperlicher und sehr guter geistiger Verfassung.

Mich hat das Karfreitagsei damals nicht vor einem Autounfall geschützt. Als knapp Zwanzigjährige hatte ich einen Selbstunfall mit dem Auto meiner Eltern. Ich war auf schneebedeckter Strasse ins Schleudern geraten, das Auto hatte sich zweimal überschlagen und war schlussendlich im Bachbett gelandet. In der Frontscheibe des Autos war ein Loch von ca. 7 cm Durchmesser, auf der Rückbank lag ein dicker Ast, der die Frontscheibe durchschossen und meinen Mantelärmel zerfetzt hatte.

Warum ist dieser Unfall so und nicht anders verlaufen? War das Zufall? Schicksal? Fügung? Ein Zeichen Gottes? Hatte das Karfreitagsei mich vor einem schwereren Unfall geschützt? Oder sollte ich bedauern, dass die Magie des Karfreitagseis das Auto nicht vor einem Totalschaden und mich nicht vor einem Unfall bewahrt hatte?

Ich habe keine Ahnung.

Welche Geschichte will ich mir – im Nachhinein – von diesem Unfall erzählen?